Da sitze ich an meinem Schreibtisch, mit dem Rücken zur Tür,
selbstverständlich, denn eine andere Möglichkeit gibt es in der ehemaligen Speisekammer, dass schon vor langer Zeit zum Home-Office umfunktioniert wurde, nicht. Seit nunmehr zehn Wochen versuchen wir
Heimunterricht, Arbeit und sonstige Pflichten unter einen Hut zu bringen. Vor
zwei Wochen nun lief die Schule wieder an und jetzt ist B-Woche. Das Kind kommt
also 10:30 Uhr von der Schule, es wird nur noch Mathe, Deutsch und Englisch
unterrichtet. Es steht also irgendwann kurz nach 13 Uhr ohne vorheriges Geräusch
hinter mir, mit Stift und Heft bewaffnet und sagt: "Was bedeutet `in
Bande schlagen`?" Ich fahre zusammen.
Die Bedeutung dieser Redensart ist mir natürlich bekannt, doch mein Kopf
ist nach pausenlosen Telefonaten und Gesitz am PC irgendwie leer. Das Netz weiß
schließlich alles, bestimmt doch auch eine kindgerechte, kurze Erklärung und
während ich Sekunden später die passende Formulierung diktiere, in der Annahme,
dass das hinter mir stehende Kind irgendwie mitschreibt, redet es schon wieder
los: "Was heißt denn `Rotte`?" Auch das ist mir bekannt und ich suche
noch nach den richtigen Worten da fragt es schon wieder: "Ja und was
heißt eigentlich 'Wahn'?" "Moment, was hast du denn bis jetzt mitgeschrieben?"
Ich drehe mich um und verlange das Heft zu sehen, welches das Kind mit großen
Augen fest an seine Brust drückt. Die ganze Körperhaltung drückt Abwehr aus, es
will es mir nicht zeigen. Na gut, dann nicht, dann eben weiter im Text...
"Das Wort Wahn bedeutet... " setze ich an, doch weiter komme ich nicht. "Mama
was bedeutet 'gebeut'?" "Was hast du denn bitte für einen Text?" frage ich erstaunt nach
und das Kind gibt mir mit einen einfachen: "Na nix weiter." Bescheid.
Ich suche also nach dem altertümlichen Wort `gebeut`, überlege noch etwas für `Wahn` und `Rotte` ... Schon tönt es wieder: "Und was ist `Syrakus`?"
Auf einmal flammt Hoffnung in mir auf. Sollten sie doch tatsächlich im
Deutschunterricht einen wunderschönen alten Text gelesen haben nach all den
herben Enttäuschungen? Unter anderem wurde das Lernen eines Gedichtes schändlich
als Strafe benutzt. Seufz. Natürlich macht es mich unheimlich neugierig und ich
möchte es endlich lesen was es da hat. Was ich zu sehen bekomme ist eine lose
Auflistung grauenvoll hingeschmierter Wörter, die zu lesen mir unglaublich schwerfallen.
Aber bitte - das Kind kann es offensichtlich; bis auf zwei oder drei, Nummer
vier wird geraten... Hat's geschrieben kanns kaum lesen... Frustriert gebe ich
das Heft zurück. Es wird mir förmlich aus der Hand gerissen, mit einem bösen
Blick, ja was erdreiste ich mich auch, wieso will ich die Hausaufgaben sehen.
"Ach das Wort `Hohn` brauche ich auch noch". Wir haben noch nicht mal
die ersten Worte abgearbeitet und langsam stehen mir die Haare zu Berge, immer
dieses unkonzentrierte, strukturlose Arbeiten. Ich habe Hunger und möchte
gerne mit der letzten E-Mail für heute fertig werden und endlich, oh! bitte
endlich was zu essen haben. "Ja verflixt noch mal - warte doch mal
kurz, ich kann doch nicht alles auf einmal machen!" entfährt es mir. Das
Kind zieht eine Schippe und dreht sich beleidigt um und will sich in sein
Zimmer begeben. Da ist sie wieder, die abrupte Drehung des Oberkörpers und das
Aufwerfen des Kopfes - oh Gott, wie ich es liebe. Jetzt gebe ich ihm aber
Bescheid, dass es da zu bleiben und die Sachen zu erledigen hat die begonnen
wurden. Es steht also da, die Arme verschränkt, das Heft dazwischen, in der
Faust den Füllfederhalter, den es wütend so fest umklammert, dass die Knöchel
weiß hervorstehen. Es sagt in einem nasalen nörgeln den Ton: "Ich muss
dann auch noch wissen was 'Wundermähr' und 'frevelndes Streben'
bedeutet."...
Eine Viertelstunde später sind wir mit allem fertig, soweit man eben von
fertig reden kann, wenn man nicht korrigieren und nichts dazu sagen darf bzw. sollte,
wenn man nicht gerade einen Wutanfall erleben will, der seinem Gipfel
schließlich im wütenden Pianospiel findet. Dann wird mit Absicht, Trotz und
Fleiß dermaßen in die Tasten eingehämmert, in einem Affentempo die Melodie heruntergeleiert,
immer schneller, immer schneller, das es in den Ohren weh tut. Ich begebe mich
in die Küche, im festen Glauben, ich fände noch irgendetwas Essbares. Aber ach,
wie eine Rotte Wildschweine sind die Kurzen darüber hergefallen und genauso
sieht es auch aus. Nichts als schmutziges Geschirr hinterlassen, obwohl es
gebeut ist seine Hinterlassenschaften bedingt zu beseitigen, damit der
Nachfolgende nicht erst einmal aufräumen muss. Dies ist kein frevelndes,
sondern sinnvolles Streben, keine wahnhafte Vorstellung von durchaus möglicher gegenseitiger
Rücksichtnahme, Ordnung und Sauberkeit. Meine Gedanken gehen ca. 5 Stunden
zurück, da bot das große Kind an zum Bäcker zu laufen um ein Brot zu holen.
Darüber habe ich mich gefreut, ich habe ihm gesagt wo das Geld dafür liegt.
Jetzt habe ich die Küche aufgeräumt, werde mich umziehen und selbst zum Bäcker
gehen. Mein Magen knurrt, mir ist schon ganz schlecht, währenddessen dringt Gelächter
aus dem Wohnzimmer an mein Ohr, das große Kind sieht fern und freut sich seines
Lebens.
Auf Nachfrage, warum ist denn so bockig war, erklärt mir das kleine Kind
das es überhaupt keine Lust hat ewig lange auf Erklärungen von mir zu warten.
Aha. Stunden später stellt sich dann noch heraus, dass man einen Text über
Dionysos gelesen habe, diese kleine Freude wollte man mir zurzeit der Fragestellung
überhaupt noch nicht gönnen. Warum? Das habe ich bis jetzt noch nicht
verstanden. Es ist der blanke Hohn: Die Wundermähr von der Vereinbarkeit von
Beruf und Elternschaft im Zusammenhang und allen anderen noch zusätzlich aufgebrummten Verpflichtungen bleibt
genau das was es immer war: ein wahnhaftes frevelndes Streben gegen die
Gesetzmäßigkeiten familiären Zusammenlebens.