Wie wäre es bitte mit Zurückhaltung?

Bei manchen Menschen ist das schlicht und ergreifend nicht möglich. Es scheint vollkommen egal welche Argumentation man ins Feld führt, sie müssen immer und überall präsent sein, stets und ständig ihre Meinung verbreiten, ihre Unlust, ihr Unvermögen, für dass sie natürlich Andere verantwortlich machen und natürlich muss man sich dann das Gemecker anhören, ob man will oder nicht. Mir scheint, als nehme diese Unart mehr denn je überhand, mit fortschreiten des Jahres und seiner seltsamen Ereignisketten wird es mehr und mehr. Wie wäre es einfach mal mit Klappe halten? Einfach mal zur Ruhe kommen, mal nichts sagen, Rücksicht nehmen, Zurückhaltung üben, schweigen, nachdenken, dem Anderen raum lassen, aber nein. Es wird, zumindest empfinde ich das so, zunehmend und rücksichtsloser herausgeschrien was man da gerade fühlt oder denkt. Und? Wollte ich das wissen? Scroll doch weiter, blättere um, geh einfach weiter. Aber nein, da muss man - nicht nur in der Anonymität des Netztes seine geballte Wut, seine Abneigung, ja seinen Hass auf seine Mitmenschen loslassen. 

Hey, es muss nicht jeder so denken wie alle. Es muss auch nicht jeder zu den gleichen Schlüssen kommen, wir dürfen bitte verschieden sein, in der Art zu leben, zu denken, zu fühlen, zu handeln, immer mit genügend Abstand um dem Anderen Raum zu geben. Ich gebe Acht, bilde ich mir ein, versuche es zumindest, ruf mich zur Ordnung. täglich. Thematik: ist egal, jeder hat das Recht auf seine Meinung. Und mit dem Abstand, das ist ja auch so ein Ding. Gerade lief es noch, dann stockt es, rückt etwas auf. Ampel auf Grün, ich laufe weiter. Möchte zum Bäcker, hab ja Urlaub, da gönne ich uns ein schönes Abendbrot, mal mit Wurzelbrot, Bretzeln, seit einiger Zeit gibt es diese lecker mit Pfeffer, dazu selbstgemachtem Brotaufstrich. Schon habe ich neue Ideen im Kopf, für ein neues Buch, einen Beitrag auf dem Blog. Ich nehme die Menschen um mich freudig wahr. Es ist still, Gemurmel dringt an das Ohr, fühle mich wohl. Es ist wie immer, meine ich, und doch - ich war schon lang nicht mehr in der großen Stadt, komm mir vor als hätte ich Ausgang, bin guter Dinge. 

Und dann - heiliges Blechle - geht es rund. Blaulicht in Massen, wie aus dem Nichts blockieren plötzlich Polizeiwagen die Straße, noch einer, die Tür fliegt auf, Uniformierte hüpfen heraus, mit Masken und Helmen, zack, zack geht das, wie am Schnürchen. Von hinten rechts hör ich das Stampfen fester Sohlen, die Menschen in der Mitte sehe ich stoppen, umdrehen, Rufe dringen an mein Ohr, hört sich an wie "Achtung Kessel" und dann ein Szenario, wie ich es schon in mir zugesandten Videos sah und nie verstehen konnten wie es so heftig und schnell eskaliert. In Diskussionen, gerade um die Inhalte solcher Videos, war die Quintessenz immer, dass wir nicht dabei waren und nicht wussten was vorher geschehen war, es also nicht beurteilen. Es geht im wahrsten Sinn des Wortes Schlag auf Schlag:

Eine Frau wird aus dem Nichts mit einem Schlagstock vor die Brust geschlagen, ein schmerzverzerrtes Gesicht nehme ich wahr, ein Zusammensinken, Menschen umringen sie. Ich bin hellwach und stocksteif. Links an der Wand in Sichtweite wird eine weitere, recht zarte blonde Frau wird an die Wand gedrückt, zwei Polizisten, viel größer als sie, drehen ihr unsanft Arme auf den Rücken, sie schreit schmerzvoll auf, wird weggebracht. Warum? Was ist auf einmal los?! Mein Herz schlägt bis zum Hals, keine 3 Meter von mir ringen drei oder vier Beamte einen schreienden Mann nieder, ich kann nicht erkennen warum, sehe nur die unfassbar brutale Gewalt. Sie knieen auf ihm, halten ihn, schlagen ihn. Ein älterer Herr, der ihn kennt schreit auf die Beamten ein, sie mögen ihn auslassen, er kennt ihn gut. Auch er bekommt Prügel. Ich schaue hin, bin vollkommen fassungslos, gelähmt, verstehe nicht was auf einmal los ist. Weg, ich muss weg. Ich laufe los, feige komm ich mir vor, mir ist schlecht, mein Herz klopft. Gedanken fliegen durch den Kopf, ich hoffe und bete den Geschundenen geht es einigermaßen. Die, die unfreiwilligen Zuschauer des Geschehens wurden, werden das irgendwie verarbeiten müssen. Sowas sieht man nicht jeden Tag, man ist das nicht gewöhnt. Und ehrlich: Ich möchte da keine Gewohnheit! Bitte nicht! 

Es war einer dieser Spaziergänge, kein Banner sah ich, kein Schild, kein Ruf, keine Parolen. Nur plötzlich und aus dem Nichts dieser für mich unfassbar brutale Zugriff der Polizei. Im Nachgang betrachtet ist mir die Polizeipräsenz schon aufgefallen, auch die kalten Augen einiger Beamten. Aber ich war so damit beschäftigt mich an den Menschen zu erfreuen, wie sie da schlenderten, miteinander leise sprachen, so friedfertig und still, dass ich dem keine Bedeutung beimaß. Ich habe Gesichter studiert, Mimik und Gestik, neue Ideen für meinen Bleistift, habe ausgefallene Schuhe bewundert, fing Kinderlächeln auf, sah offensichtlich verliebte Pärchen miteinander Hand in Hand, sah in manches ängstliche Augenpaar und junge Menschen, den Blick auf das Handy, mit traumwandlerischer Sicherheit sich durch den Menschenstrom bewegend. Als ich schreibe schießen mir Tränen in die Augen. Etwas in mir ist nun endgültig dahin. Wie kann es sein, dass man mit solch sinnloser brutaler Gewalt seinen Mitmenschen begegnet? 

Wenn zukünftig das Gespräch auf die Polizei kommt werde ich leider nicht mehr sagen können, dass ich sie ausnehmend freundlich erlebt habe. Das tut mir wirklich sehr leid, nicht um meiner selbst willen. Ich weiß wohl, dass das Dunkle im Menschen sich Bahn bricht, schließlich habe ich das selbst mehrfach als Kind erleben dürfen. Auch staatliche Gewalt als ich klein war. Gegen meine Eltern, die es durchaus verstanden haben, das Meiste vor uns Kindern zu verstecken oder es zumindest so zu biegen, dass es schon irgendwie ging. Mir tut es leid um die jungen Beamten, die sich in naher Zukunft fragen werden, ob das hat sein müssen und warum sie mitgemacht haben. Schau in den Spiegel, junger Mensch, wer schaut Dich an?