Nummerierte Schamottsteine, das Buch "Totsein für Anfänger" und ich

Bin ich schon alt? Oder eine ewig Gestrige? Das frage ich mich nach etlichen Gesprächen mit Bekannten und Nachbarn. Wo ist mein Platz, wo soll ich hin? Was ist Heimat - da wo ich geboren und aufgewachsen bin? Oder nur da wo ich z. Zt. mein Leben verbringe? Oder im Herzen? In einem Glas Erde das ich von daheim mitgebracht habe, in einem Stein aus dem Bach hinter meines Vaters Garten, der sich in meinen Händen seltsam vertraut anfühlt? Was ist das, das uns in jungen Jahren vortreibt und uns dann in der Mitte des Lebens heimwärts zieht? Flügge werden, auf eigenen Beinen stehen, zeigen man kann es allein. Das ist gut und wichtig, aber irgendwie schmeckt es nirgends so wie daheim, riecht es so, atmet der Acker Heimat, singen die Vögel so suß Willkommen, stürmt der Wind um die Hausecke im ewig altvertrauten Liede. Heim, ja heimwärts zieht es mich. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, wie jemand so fern der Heimat auf ewig verweilen möchte, womöglich in fremder Erde begraben werden wird. Das möchte ich bitte ganz sicher nicht, wenn es Zeit für den endgültigen Heimgang ist, dann bitte in heimatlichen Gefilden, den Ahnen zur Seite, da wo die alten Weiden rauschen. Bis dahin sehe ich hoffentlich noch mindestens 50 Sommer, jetzt den Löffel abgeben, unvorstellbar. Es ist noch so viel Arbeit. Trotzdem habe ich mir Gedanken gemacht um die Nachhaltigkeit von Bestattungen und um unsere neue Bestattungskultur. Das frühe Christentum verlangte eine Bestattung des intakten Körpers in der Umarmung der Erde. Es erfolgte die Feuerbestattung parallel dazu bis zum Verbot im Jahre 789 durch Karl den Großen. Erst um die Jahrhundertwende kam die Frage nach der hygienischen Beseitigung der Leichname nach dem Fortschreiten der medizinischen Kenntnisse und den Cholera- und Typhusepidemien wieder auf. So geschah es, dass 1878 in Gotha das erste Krematorium auf deutschen Boden seinen Betrieb aufnahm. Die Vorarbeit leisteten deutsche und italienische Ofenbauer, sie nutzten die technischen Möglichkeiten der Industrie und ihre Kenntnisse zur Leichenverbrennung. Der italienische Pathologieprofessor Lodovico Brunetti zeigte schließlich einen Feuerbestattungsapparat 1873 auf der Wiener Weltausstellung. Die Katholische Kirche erlaubte die Kremierung erst ab 1963, die Evangelische schon um 1920. Feuerbestattungen sind nach wie vor auf dem Vormarsch, gestorben wird vielfach im Krankenhaus, Gebeine sind aus unserem Alltag verschwunden, bestenfalls als stilisierte Dekoration auf unserer Kleidung finden wir sie. Doch gehört der Tot zum Leben dazu und das angemessene Bestatten mit allem was dazu gehört. Es bleiben nach der Verbrennung zwei bis vier Kilogramm Asche über, über 750 Grad in der Einäscherungskammer und knapp zwei Stunden später, dann ist alles weißer Staub. Was grob ist wird durch die Knochenmühle gegeben, alles landet in einer Aschekapsel, dazu ein Schamottstein mit der laufenden Nummer um Verwechslungen auszuschließen. Die Aschekapsel wird in eine Schmuckdose eingefasst und verschlossen. Schließlich wird dann zur letzten Ruhe gebettet, nicht im Garten, auf dem Gottesacker in vorgeschriebener Tiefe. Damit wäre das Aufräumen beendet, zumindest dessen was sichtbar ist. 

Und dann? Wie und dann? Ja was ist mit dem Rest? Ist da noch was da, etwas Geistiges? Wer will schon weg sein, für immer, das Ich, das Sein - weggefegt? Manchmal in Sekundenbruchteilen. Im Leben geht's rauf und runter, das ist kein großes Geheimnis, hat jeder von uns schon mitbekommen. Wichtig ist ,dass in gewissen Situationen etwas da ist einen aufzurichten, zu trösten, Hoffnung zu geben. Als im August diesen Jahres meine liebe Tante starb - immerhin hat sie es bis in die 70er trotz einer ständig wiederkehrenden Krebserkrankung mit unerschütterlicher Willensstärke geschafft, hatte ich einen papiernen Trost an meiner Seite. Da wir ziemlich weit auseinander wohnen sah ich sie das letzte Mal 2018 im Sommer. Irgendwie war es mir damals schon klar, dass dies das letzte physische Zusammentreffen sein wird. Wie sie da so zerbrechlich neben den großen Sandsteinpfeilern stand, die die verrosteten, schön geschmiedeten, ehemals stolzen Tore des großen Gutes, indem sie seit Kinderzeiten eine Wohnung mit einem von ihr liebevoll gehegten Garten bewohnte, hielten, da wusste ich es. Wir hatten noch viele Telefonate und das Letzte wollte und wollte kein Ende nehmen, sie war so in Erinnerungen schwelgend wie kaum sonst. Ja, ich wusste es schon. 

In der Woche als sie starb lag ich unter meinem vertrauten Haselnuss und lass zufälligerweise das Buch 'Tot sein für Anfänger - ein Handbuch für Nichtgestorbene' von Anja RiviniusUnd während ich mich über Anja Rivinius´ Formulierungen und ihren saloppen, manchmal spöttischen, aber stets lustigen, niemals belehrenden Ton amüsierte, ging meine Tante aus dieser Welt in die Nächste.

Am Donnerstag hatte ich das Buch fertig gelesen und am Donnerstag so gegen Mittag hatte ich plötzlich das starke Gefühl der Anwesenheit meiner Tante, ich musste ständig an sie denken bei allen Dingen die ich an diesem Tage tat. Da ich das schon ein paar mal erlebt habe hielt ich also inne und sprach mit ihr als wäre sie da. Das Gefühl der Anwesenheit wurde schließlich im familiären Lauf des Tages verschluckt,  und ich erfuhr von ihren Heimgang erst am Samstag per WhatsApp. Gruselig nicht wahr? Die Gefühle, die einen überwältigen wenn ein geliebter Mensch verstirbt, kennt sicherlich jeder von uns, doch die tiefe Trauer, das Verlorensein blieb diesmal aus und das, meine ich, ist im Buch von Anja Rivinius´ geschuldet, die in ihrer unnachahmlichen Art einen möglichen Weg der Seele nach dem Tod beschreibt. Sterben ist wie auswandern - sagt die Autorin. Ja und irgendwie hat sie recht. Aber was kommt danach, wo gehen wir hin, wer holt uns ab, werden wir wirklich abgeholt? Was hat es mit dem Licht am Ende des Tunnels auf sich, und was ist wenn wir uns entscheiden hierzubleiben? Bekommt man es mit wenn man stirbt? Was wenn nicht? Wer bleibt hier und spuckt weiter, ist ein Geist? Tut das weh wenn man hier bleibt? Ich meine nicht körperlich aber irgendwie anders.
Gehen wir mal davon aus, dass der Mensch eine Art Seele hat, oder ein Bewusstsein, das sich vom irdischen Hier und Jetzt trennen muss um in die nächste Welt, in die nächste Abteilung, nächste Bewusstseinsstufe, zu gelangen, meinethalben auch um sich dem göttlichen Mene-Tekel zu unterwerfen. Dann gibt es danach definitiv mehr als nichts, viel mehr als nichts, schreibt auch die Autorin, die selbst schon ein Nahtoterlebnis hatte. Ganz genau kann es freilich nicht benannt und beschrieben werden, dazu müsste man ja ganz tot, mausetot sein, Tote schreiben nicht. Wenn sie das doch tun, dann spuken sie herum, benehmen sich von ihrem Standpunkt aus ganz genau so als wären sie am Leben. Das muss total frustrierend sein, sind doch alle Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt. Wenn man dann sauer wird als Gestorbener, dann wäre es doch nachvollziehbar - oder nicht? Kommen vielleicht daher die ganzen Spukgeschichten, weil doch etwas, jemand dableibt? Ja, sagt Anja Revinius, und sie ist nicht allein mit ihrer Ansicht. Jeder Nichtgestorbene wird einen großen Teil ihrer Ausführungen bestätigen (können). Nach dem was ich schon alles in den über 40 Sommern gesehen, erlebt und gefühlt habe weiß ich das danach etwas kommt und wir definitiv nicht allein sind. Ich habe das Buch schon zweimal verschenkt an Menschen wo Hilfe Not tat, und auch hier hat es geholfen. Anja, ich danke Dir! Ich danke Dir von ganzen Herzen, das Du dieses kniffelige Thema so natürlich anpackst - und das im wahrsten Sinn des Wortes. Das Buch sollte beim Bestatter, in der Kirche und beim Seelentröster liegen, es ist eins was wirklich wichtig ist. Anja Revinius ist Christin, das merkt man selbstverständlich im Text. Alles kommt vom himmlischen Vater und wirkt durch den Sohn Jesus Christus.