Hilra

Hammer, Zirkel, Affentanz

Zuhause. Ein Haus in einem kleinen Dorf in Mitteldeutschlands sanften fruchtbaren Hügelland. Der Vater hatte es seinerzeit zusammen mit dem Onkel gekauft. Nicht teuer für unsere Begriffe heute, wie das mit allem so ist haben sich Preise und Einkommen und damit auch das was man sich leisten kann grundlegend auseinanderdividiert. Das Haus war riesig, eigentlich war es ein großer Dreiseitenhof, einer mit Tradition. Schon immer war es Gastwirtschaft gewesen, in den siebziger Jahren wurde in den oberen Räumen ein kleiner Kindergarten untergebracht, der später wieder ausgegliedert wurde. Im rechten Winkel zum Wohnhaus stand ein großer Saal mit Bühne, die auf drei massigen Säulen aus Ziegelsteinen ruhte. Das Geviert davor bildete den Hausgarten, indem Kräuter wuchsen und ein alter Apfelbaum stand, dessen Sorte Hilra vergessen hatte. Kein Apfel schmeckte jemals so köstlich wie diese, mittelgroß, gelbfleischig, knackig und rotbackig. Ebenso gab es im Hausgarten vier Büsche schwarzer Johannisbeeren, deren Genuss man nur heimlich frönen durfte, denn aus diesem wurde Wein gekeltert, sie waren für die Kinder tabu. Hin und wieder trugen sie derartig viele Früchte, das es dann doch einen Kuchen gab: unten Hefeteig, fein abgeschmeckt mit einer Prise Muskat, darauf Sahnepudding mit Stärkemehl angedickt, ohne Puddingpulver. Darauf die köstlichen Beeren, die einwandfrei sein mussten und obenauf Butterstreusel, handgeknetet, die Butter zimmerwarm, mit einer Idee selbst gemachten deutschen Vanillezucker aus Mädesüßblüten und Raffinadenzucker.

Auch ein Sauerkirschbäumchen mit noch spärlichen Früchten wuchs hier, dessen herbe Erträge ebenfalls zu einem der allsonntäglichen Backwerke oder Vorrat für den Winter wurden. Eingefasst war der Hausgarten zur Straßenseite hin durch einen schmiedeeisernen, rostigen, feingeschwungenen Zaun. Gegenüberliegend des Wohnhauses stand ein weiteres kleines Haus mit Gefachen, die die besten Jahre schon hinter sich hatten. Der Lehm war an vielen Stellen herausgefallen und bildete an der Mauer eine dicke Schicht die von allerlei Kräutern bewachsen war, die Balken waren an vielen Stellen morsch und die Heimat von Ameisenkolonien und Kellerasseln. Zwischen diesem Fachwerkhaus und der Ecke des Saales gab es einen schmalen Durchgang, über diesen betrat man den Hausgarten. Im Untergeschoss des Saals gab es eine Kegelbahn und angrenzenden kleinen Raum, mit zwei Fenstern zum Hausgarten. Hier lagerte das Heu, das für die langen Reihen aufeinander gestapelter Karnickelstallboxen hinter den Zwischenwänden aus dicken Balken, deren Gefache mit Flechtwerk und Lehm verschlossen waren, entlang der Kegelbahn auf dem Podest bis zur Waschküche standen. Diesen Raum bewohnten auch die Katzen, mit denen man im Winter prima in der Heukammer spielen konnte. Die Spinnweben an den Fenstern ließen das Sonnenlicht nur gedämpft hindurch. Viele davon waren uralt, mit einer dicken Staub- und Fliegenschicht, unter der sie irgendwann rissen, besetzt. Von der Decke hingen Lehmstücke an langen Stohhalmen herab. Neben der Heukammer befand sich der ein weiterer Raum mit einer alten Holztür zum Garten und einem riesigen Fester und einem Weiteren zum Hausgarten. Auch hier das gleiche traurige Bild. Spinnweben und Schmutz. Der ehemalige Pferdestall befand sich gleich daneben auf der Gartenseite unter dem Saal. Beide Räume wurden nunmehr als Hühner- und Entenstall genutzt, eine sehr wackelige Stiege führte durch einen Durchbruch in der Wand hinab. Von der Hofseite kam man da nicht mehr heran, da der Stall geteilt, aufgefüllt und zu einer mit einer Montagegrube ausgestatten Garage umgebaut wurden war. Die Grube verschlossen dicke Bohlen aus Holz, die man leicht anheben und darunter schlüpfen konnte. Blaue hölzerne Tore sollten die Garage und das Werkzeug vor dem Zugriff der Kinder sichern. Eine kleine Rampe davor mit alten Pflaster bildete die Ausfahrt aus ihr. Hier gab es einen Gully und einen Wasserhahn, der das Wasser aus dem Brunnen im Garten ausspie. An einem Zweiten, der gleich neben der Haustür stand, konnte man mit einer alten gußeisernen Pumpe das Wasser schöpfen, welches im Sommer zum Wäschewaschen taugte.
Der Boden im unteren Bereich des Stalles bestand aus gestampftem dunklen Lehm, an der Seite in Augenhöhe waren die Sitzroste für die Hühner angebracht, im oberen Stall die Legenester, Raufen und Futterquetsche für Knochen. Betrat man mit einer Schüssel Knochen den Stall versammelten sich die Hühner gierig, einander hackend und piesackend, um die Quetsche. Ob Hühnchen-, Karanickel oder Kotelettknochen, die Quetsche hackte alles klitzeklein. Man musste nur kräftig an dem Hebel ziehen, sich notfalls dranhängen, die Eisenzähne schufen aus Knochen hühnerschnabelgerechtes Kleinzeug. Heraus und hereingelassen wurden Enten und Hühner mittels einer Klappe, die über Rollen lief, an deren Ende eine alte Konservendose mit Steinen als Gegengewicht hing. Das ganze Gemäuer war aus teils unbehauenen Sandsteinen, im Untergeschoß aus teils halbmeterdicken Mauern, zusammengefügt, so dass auch im Hochsommer eine unangenehme Kühle herrschte. Am Anfang der Kegelbahn befand sich der Innenbereich des Hundezwingers und die Futterküche. Hier stand ein großer Kessel in den Kartoffeln gedämpft oder Mais gekocht wurde. Hier standen große rostrote Kunststofffässer mit schwarzen Deckeln, in denen Schrot aufbewahrt wurde, welches aus dem Getreidedepotad (Lohnzugabe für Arbeiter in der Landwirtschaft) hergestellt worden war. Es lockte beständig Raten an, auch zweibeinige Staatsdiener, die Diebstahl mittels Schrotprobe nachweisen wollten.
Mittig der Kegelbahn befand sich der Durchgang zur Garage und gegenüberliegend eine große gelbe Tür zur Waschküche, die seltsam quietschte, wenn man sie öffnete. Die Waschküche war ein dunkler ungemütlicher Ort. Feucht und kühl, mit einem Abfluss in der Mitte, der mit einer schmutziggrauen, gelochten Kunststoffplatte, Marke Eigenbau verschlossen war. Auch hier stand ein großer Kessel, dem besondere Aufmerksamkeit durch die Mitarbeiter der Jugendfürsorge zu Teil wurde. Außerdem Zuber und Wannen, Mangel und Waschbretter, eine Schleuder und viel später eine Schwarzenberger Waschmaschine. Das einzige Fenster war in einem Winkel und zeigte auf den Hausgarten. Es war dort fast ebenerdig, so dass die Kinder es als Ein- und Ausstieg benutzten. In der Waschküche gab es an einer Wand eine große Öffnung ziemlich weit oben. Das war einmal die Luke für den dahinter befindlichen Backofen, den man nach Einzug abgetragen hatte. Der Raum, der einst den Backofen barg, war groß genug, dass man ihn von der anderen Seite flurseitig auf halber Höhe betreten konnte. Er hieß „Friedas Küche“ und war u. a. der Spinnraum im Winter gewesen, sein Fenster zeigte zum Hof, gleich neben dem Brunnen. Nun aber war Friedas Küche seines Schmuckes beraubt, keine Holzbänke standen mehr, kein Tisch, kein Spinnrad surrte, niemand sortierte mehr Federn auf der „Langen Bank“ die jetzt in der Garage Vaters Schraubströcke trug. Längst verstummt die Lieder und das Lachen. Dafür klaffte ungefähr mittig ein sehr tiefes Loch im Boden, in das allerlei Dinge wanderten, die es, grub man verbotenerweise da, zögernd wieder freigab. Alte Tonscherben, verrostete Eisenteile einstiger Gebrauchsgegenstände, alte Stifte, sogar Würfel, Griffel, Fetzen von Zeitungen, alte Bierflaschen, Dosen aus Metall mit abgeschabten Farben, Holzpantinen, kaputte Haarklammern und dergleichen mehr fand man da. Das Erdreich rutschte beständig nach unten, wohin ist ein Rätsel. Die Kinder hatten Mühe wieder hinauf zu gelangen und verpetzten sich gegenseitig bei der Mutter, wenn sie sich doch wieder mal beim Graben erwischten. Doch, da musste schon Ordnung sein, wer wusste schon was in dem Loch ist, wohin es eins der fünf Geschwister ziehen will. Das geschah nicht etwa aus Besorgnis, grub man doch selber da, waren die Eltern aus dem Haus. Wohl eher aus Angst, einer verschwände auf Nimmerwiedersehen, man würde dafür verantwortlich gemacht und windelweich gedroschen werden. Die Tür war mit Haken und Öse gesichert, neben ihr führte die große Treppe ins Obergeschoß. Das Mysterium des Loches und der daran vorbeiführende Weg verhinderten so manchen nächtlichen Besuch des Plumpsklos. Tags lauerte nur die Gefahr der Entdeckung und der darauffolgenden Strafe in Friedas Küche, nachts aber kroch für die Buben etwas aus der Grube, schlich in Haus und Hof herum und verlieh mittels kindlicher Phantasie der Dunkelheit rotglühende Augen.
Ging man durch die Waschküche passierte man eine alte hölzerne Tür, an der einige Haken angebracht waren. An diesen hingen Teppichklopfer, das große Lederkoppel des Vaters, das sich mehr auf den Kinderärschen als an der Hüfte des großen, breitschultrigen Mannes bewegte. Ein großes Mangelholz, die Waschkittel, Wattejacke, Arbeitshosen- und Westen, auch ein Sack mit uralten Wäscheklammern, die mit ihren kräftigen Zwicken jedem noch so heftigen Reißen der Winde an der so mühevoll gewaschenen Wäsche standhielten, hing da. Die Türe schloss unten nicht dicht ab, der Lichtschein und das beständige Lärmen der Kinder drang daraus hervor. Oft hatten die Eltern hinter der Tür gestanden, um sie im unpassendste Moment aufzureißen und eine Standpauke zu halten. Besonders der Vater hatte diese Eigenart, wenn er gereizt und aggressiv von der Arbeit kam. Oft genug hörte er die Mutter schimpfen und nahm den geringsten Anlass kräftig in die Küche einzufahren, während in ihr das Abendessen bereitete wurde. Wehe, es war nicht auftragsbereit, wenn der Herr des Hauses sie betrat. Diese Unart machte die Kinder zu verbündeten, wechselseitig achteten sie darauf, ob Moped oder später Auto in den Hof einbog. Die großen schweren Hoftore, welche mit altem Öl gestrichen und im Sommer stanken mussten vor Ankunft des Vaters geöffnet, im Winter der Schnee bis zur Garage gefegt sein, somit konnte er jederzeit unangekündigt in der schlicht aus zusammengewürfelten Resten eingerichteten Küche stehen. Am Durchgang zum Hausflur stand ein riesiger alter Ofen mit ausziehbaren Holzkasten. Auf ihm lagen drei Ziegelsteine an der Seite. Darüber hingen an einer Leine Socken und löchrige, verschlissene Handtücher, die im Winter um die Steine gewickelt und ins Bett gelegt wurden. Daneben hing an der Wand ein Kellenblech mit der sinnreichen Aufschrift: „Arbeit erfunden, im Gebet gesunden“. Überhaupt trug allerhand Stickwerk, dass die Wohnung dekorierte, irgendwelche Sprüche. An der Wand hing ein Deckelträger für die Kochtopfdeckel, die Kaffeemühle, auf ihr stand: „Morgenstund hat Gold im Mund“. Daneben stand ein Gasherd, ein kleiner Tisch, unter ihm die Gasflasche, ein Regal mit Gewürzen und Hacken darüber, daneben später ein wieder geöffneter Durchgang. Unter den zwei großen Fenstern, die zum Hausgarten zeigten, stand ein thronte ein gewaltiges Kanapee, worauf der Vater sich nach dem Sonntagsmahl zu legen pflegte. Da lag er, schnarchte und wehe er wurde geweckt durch den unvermeidlichen Abwasch. Vor dem Sofa stand ein sehr großer Esstisch mit Gestühl herum. Die Fenster waren sauber, schneeweiße Querbehänge schmückten es. Die Buntnessel fühlte sich hier so wohl, dass sie fast das ganze Fenster zu wucherte, bis sie eines Tages mit samt dem Übertopf wütend aus dem Fenster geschleudert wurde. Der Grießbrei kochte über und der Gestank von verbrannter Milch ließ Vater auffahren um das Fenster zu öffnen. Er hasste Verschwendung. Das er zuerst noch die arme Nessel wegräumen musste veranlasste ihn zu schreien: „Scheißgefräcke üboall, an kei Fenster kommdt mo ran! Verfault-noch-amal!“ und die Mutter böse anzuschauen. Sie drehte sich nach dem Herd um, Tränen in den Augen.

Gegenüber dem Ofen befand sich ein tiefer Wandschrank in dem die wichtigsten Utensilien verstaut waren und der einen seltsamen Geruch ausströmte. Hilra fand ihn irgendwie unheimlich, wenngleich sie auch interessante Dinge in der untersten, die zugleich auch die tiefste Ablage war, fand. Gleich neben dem Wandschrank im rechten Winkel bildet die Treppe im Flur zum Obergeschoss drei Stufen, die gefliest waren. Davor war ein großes Marmorspülbecken in einer entsprechend großen Ablage eingelassen. An der Wand zur Waschküche stand ein uraltes himmelblaues Küchenbuffet mit Keramikschüben für Mehl, Salz, Zucker und dergleichen. Ging man aus der Küche hinaus so stand in einen quadratischen Hausflur, der mit schmutziggelben, ausgetretenen, rauhen Fliesen, die einstmals ein feines filigranes Muster aufwiesen, ausgelegt war. Geradeaus ging man durch die doppelflüglige hölzerne Haustüre, linkerhand durch eine riesenhafte weiße Kassettentür in den ehemaligen Gastraum, geteilt durch die Theke, hinter dieser lag ein weitere kleiner Raum, durch welchen man wieder die Küche betrat. Hier war die Dielung war aufgerissen, es roch feucht, modrig. Es gab zwei Fenster zum Hausgarten, eins davon war einst der Gesindeeingang. Zwei zur Straße, innen lagen sie so hoch, dass sie auch für Erwachsen kaum zu erreichen waren, außen hingegen fast auf Straßenhöhe. Sie vibrierten bedenklich, wenn die großen Zugmaschinen oder gar russische Panzer vorbeirollten. Der größere Schankraum besaß ebenfalls zwei Fenster zur Straße, welche zugemauert waren, wobei zwei Reihen Glassteine eingefügt wurden. Durch diese und die zwei großen Fenster zum Hof fiel genügend Licht ein und barg das Innere vor stets unerwünschter Beobachtung oder zufälligen Besuchen. Dagegen hatte man sich ohnehin abgesichert. Jeder wusste es: „Betteln und Haussieren unerwünscht“ stand auf dem gelben Warnschild neben dem Bildnis eines Schäferhundes.
Durch die zweiflügliche, hölzerne, mit grünen Feldern unten, kleinen quadratischen Fenstern oberhalb, dunkelrot gestrichen Haustüre gelangte man in den Hof. Über der Haustür gab hoch oben ein halbrundes Fenster, welches sich klappen ließ und beständiges Gemaule unter den Mädchen auslöste, wer es putzen solle. Zu der Treppe im Obergeschoss gelangte man ebenfalls über den kleinen quadratischen Flur. Diese befand sich gleich neben der Tür zum Hauskeller, wenn man aus der Küche trat auf der rechten Seite. Der Hauskeller war beständig abgeschlossen, eine weißgestrichene dicke Eichentür hütete das Eingemachte, Most und Wein, Äpfel und Kartoffeln vor der stets hungrigen Kinderschar. Nur eine, vorne abgerundete in der Mitte ausgetretene Sandsteinstufe führte vom Hausflur in den Hauskeller, der unter der Treppe zum Obergeschoss eingelassen war. Ursprünglich war dies die Beschickungsstelle für den Backofen, der mit seiner durchdachten Konstruktion und in den Wänden verbauten Kanäle fast die gesamte untere Etage heizte. In diesem kleinen Raum befand sich ein halbrunde Lucke, groß genug um den Ofen zu befeuern und die Asche auszutragen. Dieser war mit dicken Backsteinen zugesetzt, verputzt, mit Kalkfarbe weiß getüncht. Dicke Bohlen – dem Saalboden entnommen und zurecht gesägt als Regal eingefügt. Auch unter der Treppe gab es diese Art Regal. An der Wand links führt eine Treppe 15 Stufen hinab in einen weiteren Kellerraum, in dessen Mitte eine Quelle entsprang. Das austretende Wasser lief durch ein unterirdisches Tonrohr in der Wand in den Hausgarten ab. Es war der Langseite des Saales verlegt und entließ das Wasser in den Gartengully. Der Kellerraum war mit glasierten Backsteinen ausgelegt. An der Wand waren aus demselben Material Lagerstätten für Bier- und Weinfässer geschaffen worden. Lange schon waren Fässer und Bottiche verschwunden, dafür war ein Viertel des Raues querüber mit langen Zaunslatten bestückt, auf dem ein Großteil der Kartoffelernte meist frostsicher eingelagert wurde. Etwas weiter vorne standen Kiste mit Apfelmost und Wein. Je nach Stand des Grundwassers stieg oder sank das Wasser in diesem Raum. Wollte man also Kartoffeln holen musste man sich Gummistiefel anziehen. Es war ein unheimlicher, dunkler, feuchter Ort. Nichtsdestotrotz zog sich Hilra oft auf die hinterste Ecke des Lattenrostes zurück, wenn der Vater wieder einen seiner Tobsuchtsanfälle bekam und saß dort zitternd und bebend der Kälte wegen im Dunkel und wartete bis das Fluchen und Schreien und das Klatschen der Schläge aus dem Obergeschoss abebbte. Man konnte es gut hören, den der unter der eingemauerten Spüle befindliche Siphon war durch eine Montageöffnung zugänglich und zeigte mit dem daran befindlichen Abflußrohr geradewegs in den Keller. Die Öffnung war nur mit einem Lappen verstopft. Hin und wieder hangelten sich verirrte Wanderratten mit dem Ansteigen des Grundwassers im Frühjahr das Rohr hinauf und wollten in die Küche. Hilra mochte den Keller, in seiner feuchten Kühle barg er sie sicher vor der strafenden Hand des Vaters. Sie mochte den modrigen Geruch und das Keimen der Restkartoffeln im Frühjahr. Sie streckten ihre langen Keime kerzengerade in die Höhe, wohlwissend dem Licht entgegen. Die Keimkraft der Kartoffeln bewunderte Hilra, auch die Beharrlichkeit mit der sie jedes Jahr da unten keimten. Wussten sie denn nicht, das aus dem Keller kein Entrinnen gab, genauso wenig, wie man einer der ach so gerechten Strafen entkommen konnte, die die Eltern über die Kinder verhängten? Das Heil der Kartoffel lag im Kochtopf oder im Kessel für das Schweinefutter, in denen sie ihrer Keime beraubt ihren letzten Gang antraten. Hilras hingegen leuchtete ihr in der Zahl 18 jedes Jahr ein Stück näher entgegen. 

Im Frühjahr, wenn die Kinder die Keime der Kartoffeln brachen, die knackig wie junger Spargel, dünn und aufrecht aufragten, da überlegte sie, wie es wohl wäre hineinzubeißen, wie es schmeckte, denn sie brachen allzu saftig mit einem stillen Seufzen von der Mutterpflanze ab. Ach, die Kartoffeln, wie oft hatten sie die Kinder vor dem gröbsten Hunger bewahrt und wie oft hatten die Kinder sie mit der Großmutter im Frühjahr in die schnurgeraden Dämme im großen Garten legen müssen. Wie oft war es dabei kalt und diesig, dass die Kälte nach und nach in die Kleider kroch. Selbst bei Nieselregen musste es sein. Und die Mutter, bleich, mit zusammengepressten Lippen stand im Saal an einen der großen Fenster, die bis zum Boden reichten und rief der Großmutter zu, sie möge doch die Kinder hineinschicken, es sei zu kalt und es genüge auch noch morgen. Die Großmutter aber war unbarmherzig, sie lebte nach der festen Überzeugung: "Wer nicht arbeitet soll auch nicht essen." Nie im Leben wäre es ihr in den Sinn gekommen, jemanden hinten und vorn alles hineinzustecken, der dafür nichts geleistet hat. Dabei war sie keineswegs ungerecht oder geizig. Sie hatten nur das ganze Grauen des Krieges, die Vertreibung der Sudetendeutschen und die Nachkriegsjahre als Frau eines schwerhörigen jähzornigen Mannes mit gewaltigen Fäusten und Mutter von vier Kindern durchlebt. Nein, jammern tat sie nie. Sie benannte Fakten und sie konnte fabelhaft Stricken wie die meisten Frauen ihre Generation, nicht aus Vergnügen, sondern aus der Not heraus, um sich etwas hinzu zu verdienen, Tauschware zu haben und um Geld zu sparen für die Kleidung ihrer und der vielen Kinder ihrer vier jüngeren Schwestern. Eine durchschnittliche deutsche Familie ihrer Zeit hatte wenigstens vier Kinder, die Frauen waren Vollzeitmütter, die Einen mit mehr, die Anderen mit weniger Vergnügen daran. Mit jedem Kind wurde die Arbeit mehr, aber jedes Kind konnte und musste mithelfen, wenn es das entsprechende Alter hatte. Selbst im kleinsten Pinsel konnte man beibringen auf der Dorfwiese die Gänse zu hüten. Das tat es dann auch ohne Murren, der Lohn für seine Mühe war Kost und Logis, Mutters Selbstgestricktes, mit dem es die kalten Winter viel besser aushielt. Auch Unkraut zupfen war eins der leidigen Aufgaben, eine der Vielen Hilras, nicht nur im Hofgarten. In diesem wurden Bohnen, Tomaten, Rettiche, Erdbeeren, Stachelbeeren, rot und weiß, Johannisbeeren ebenfalls Rote und Weiße, Gurken, Rhabarber, Kohlrabbi, Karotten, Radieschen, Schnittlauch, Kresse, Petersilie, Lauch, kurz alles was irgendwie ess-und verwertbar war angebaut. Und mithelfen musste jeder. „Wollt ihr Radieschen essen?“ frug der Vater gerade nach Haus gekommen an einem Frühlingstag. Keine Frage, und wie die Kinder wollte. „Dann nehmt die Schaufel, werft die Erde da durch den Durchschlag und legt ein Beet an. Seid ihr damit fertig gebe ich euch den Samen.“ Sprachs grinsend und ging zum Vespern.


Zwei Apfelbäume standen auf den kleinen Beeten neben der Garage, im Durchgang zwischen Saal und großer Scheune. Neben dem Saal an der langen Seite zum großen Garten hin säumten zwei Hauspflaumenbäume den mit Platten belegten Weg. Sie bescherten jeden Herbst eine reiche Ernte, wohingegen der im Hofgartengarten stehenden Baum selten Früchte trug. Vielleicht war er einfach noch zu jung. Überreich hingegen trug der alte Kaiser-Wilhelm-Apfelbaum der inmitten des oberen großen Gartens stand. Neben ihm entsprang eine Quelle, die mit einem kleinen Gemäuer eingefasst war. Sie speiste einen kleinen Teich, den Fische, Libellen und allerhand Getier besiedelte, der im Winter völlig zufror und den die Kinder zum Schlittschuh laufen benutzten. Wie dieses Biotop funktionieren konnte bleibt bis heute ein Rätsel, denn alle Abwässer liefen in diesem Teich. Gleich neben dem Apfelbaum an der tiefsten Stelle lag eine bläulich schimmernde Schicht auf dem Boden. Die Kinder wussten damals nicht was das war und träumten davon, dass dort unten ein Volk von Nymphen wohnte, das sich nicht um die Geschicke der oberirdischen Bewohner des Gartens kümmert und ihnen, wenn der Vater mal wieder mit den Worten: "Juckt euch das Fell?", beispringen würde, weil es genug sei und sie mit hinabnähme, dahin wo das bläuliche Funkeln durch die Wasserlinsen hin und wieder zu sehen war. Ein Trauerweidenspross und Sommerflieder,  hundertfach von Faltern, Hummeln, Bienen und Schwebfliegen zur Blütezeit besucht. Große Rohrkolben, Brombeergestrüpp und gewaltige Eschen, zwischen denen der morsche Zaun sich jedes Jahr mehr und mehr dem Bach hinter dem Garten zuneigte, umschlossen diesen sowie den Teich, der das Grundstück an dieser Stelle begrenzte. Er ließ nur einen schmalen Steg zu dem rückwärtigen Gärtchen hinter der großen Scheune. Zwei gewaltige Eschen wuchsen hier. Auf einer ihrer Astgabeln ruhte ein Balken welcher an der Wand der Scheune in einer Mauernische auflag und dort verankert war. An ihm waren mit ehernen Ringen drei sehr lange Schaukeln aus alten eisernen Ketten und hölzernen Sitzbrettern angebracht. An einer der Eschen hing eine kleine Kinderschaukel für die Jüngsten mit hochziehbaren Schutzstreben. Während nun die großen Kinder an den gewaltigen Schaukeln auf und nieder schwangen, schrie das Jüngste zum Gotterbarmen, weil seine Bewegung immer wieder erstarb, wenn man es nicht fortwährend anknuffte.

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Fortsetzung folgt